Vom Relikt zum Symbol des Lebens

Mit Wurzeln in der fernen Vergangenheit des Planeten wuchs der Ginkgo in unsere Kultur hinein. Er inspirierte Künstler, heilte Kranke und trotzte der Atombombe. Doch um Haaresbreite hätten die Menschen ihn nie kennengelernt.

Ginkgo in Okayama

Als vor Millionen Jahren die Dinosaurier über die Erde streiften, war der Ginkgo bereits über den gesamten Globus verbreitet. Überall wuchsen eine Vielzahl verwandter Arten. Sie überlebten das Aufkommen und die Vorherrschaft der Blütenpflanzen sowie die Vernichtung drei Viertel aller Pflanzen- und Tierarten durch einen Asteroideneinschlag.

Danach verschwand der Ginkgo jedoch langsam, zuerst auf der Südhalbkugel, dann aus Nordamerika, später aus Europa und Japan. Schliesslich war nur noch Ginkgo biloba übrig, der einzige Überlebende der gesamten Pflanzenordnung. Auch er zog sich weiter aus der Welt zurück. Zu Ende der letzten Eiszeit hielt er sich nur noch in vereinzelten Regionen des heutigen China. Weshalb es zu dieser Entwicklung kam, bleibt bis heute ein Rätsel.

Fossiles Ginkgoblatt

In seiner heutigen Form wächst Ginkgo biloba schon seit mindestens 100 Millionen Jahren – die Natur wandelte sich, der Baum blieb weitgehend unverändert.

Auch Ginkgo biloba wäre heute Geschichte, hätte der Mensch nicht Gefallen an ihm gefunden. Seine frühesten schriftlichen Erwähnungen finden sich vor 1000 Jahren in China. Ihnen zufolge waren es besonders die «Früchte» des Baumes, die auf den Menschen anziehend wirkten. Der Ginkgo wurde in den alten Schriften oft als «Silberaprikose» oder «weisse Frucht» bezeichnet, daher wird vermutet, dass er als Obstbaum angepflanzt wurde.

Ginkgosamen

Botanisch gesehen ist die Frucht ein Samen. In seinem Inneren befindet sich eine harte Schale, welche einen essbaren Kern verbirgt.

Der Ginkgo wurde häufig als Tempelbaum gepflanzt. Chinesische Mönche retteten Bäume, deren natürliche Umgebung durch Landwirtschaft zerstört worden war. So pflanzten sie einige Ginkgos nahe ihrer Tempel, wo die Bäume Schutz genossen.
Da Ginkgos tausende Jahre alt werden können, stehen viele dieser Bäume noch heute bei zahlreichen buddhistischen, daoistischen und konfuzianistischen Tempeln. Sie werden verehrt als Symbol für ein langes Leben – manchen von ihnen ist ein eigener Schrein gewidmet. Reisende Mönche brachten den Ginkgo im Mittelalter nach Japan und Korea.

Buddhistischer Tempel

Überlieferungen zufolge hatte Konfuzius gerne unter einem Ginkgobaum gelesen und unterrichtet.

Der Ginkgo unterscheidet sich merklich von anderen Bäumen. Besonders deutlich zeigt sich dies in der Gestalt seiner Blätter: Die zweigeteilte Form erregt seit jeher die Fantasie der Menschen. Daoisten sahen in ihr eine Repräsentation des Yin und Yang, Künstler nutzten sie als Inspiration für Poesie und Malerei.

Ast mit Ginkgoblättern

Chinesische Gedichte erwähnen den Ginkgo seit dem 11. Jahrhundert. Auch in Japan inspirierte der Baum die Poeten – in Haiku, japanischen Kurzgedichten, waren sie häufig vertreten:

Wie kleine goldene Vögelchen
fallen die Ginkgoblätter
in der abendlichen Sonne.

Akiko Yosano, 1878 – 1942



Maler liebten die einzigartige Form und Farbe der Blätter im Wandel der Jahreszeiten:

Japanischer Wandschirm

Japanischer Wandschirm, späte Edo-Zeit.

Japanischer Farbholzschnitt

Japanischer Farbholzschnitt
Ohara Koson, 1877 – 1945

Der Ginkgo wurde zunehmend Teil der Gesellschaft und hielt Einzug in den Alltag. Besonders alte Bäume galten als heilig. Leute beteten unter ihnen und sprachen ihre Wünsche aus.
Ärzte der traditionellen chinesischen Medizin verarbeiteten Samen, Wurzeln und Blätter zu Arzneimitteln, welche sie gegen unterschiedliche Beschwerden verschrieben.
Als Lesezeichen schützten die Blätter Bücher, da sie für Insekten giftig sind, in der Küche fanden die Samen Verwendung, gekocht als Beilage oder geröstet als Snacks.

Geröstete Ginkgosamen

Geröstete Ginkgosamen

Ende des 17. Jahrhunderts war Engelbert Kaempfer, ein deutscher Arzt, auf Forschungsreise in Japan. Er dokumentierte einheimische, im Westen unbekannte Pflanzen und fertigte Zeichnungen an. Im Süden Japans stiess er auf den Ginkgo. Er machte den Baum erstmals dem Westen bekannt und verlieh ihm den heute geläufigen Namen.

Ginkgo bedeutet «Silberaprikose» und war damals in Japan die verbreitete Bezeichnung. Die ersten Bäume erreichten Mitte des 18. Jahrhunderts Europa. Einer der Ersten steht noch heute in der Niederlande. Wenige Jahre später traf der Ginkgo schliesslich auch in Nordamerika ein.

Botanische Illustration von Ginkgo Biloba

Der wissenschaftliche Name wurde um biloba – zweigeteilt – erweitert.

1923 verwüstete das Kantō-Erdbeben Tokio. Nach dem Beben wüteten schwere Brände, hunderttausende Häuser wurden zerstört. Viele Ginkgos überlebten das Feuer, ein Tempel, der von den Bäumen umgeben war, blieb unversehrt. Beim Wiederaufbau der Stadt wurde der Ginkgo nun bevorzugt gepflanzt, denn das Blattwerk und die Rinde des Baumes sind schwer entflammbar.

Heute nimmt er in Japan den ersten Platz aller in Städten und entlang Landstrassen gepflanzter Bäume ein. Seine Widerstandsfähigkeit machte ihn weltweit zum beliebten Strassenbaum. Von Shanghai über Berlin bis New York kann man den Ginkgo heute antreffen. Er ist resistent gegenüber Krankheiten sowie Insekten und hat somit praktisch keine natürlichen Feinde.

Allee voller Ginkgobäume

Ginkgobäume säumen weltweit Strassen.

Heute wie damals lieferte die Blattform Inspiration für die Mode. Während es früher Kimonos waren, sind es heute Kleider, Hosen oder Blusen. Der Ginkgo scheint sich auf allem wohl zu fühlen – er verleiht eine Aura von Naturverbundenheit und Eleganz zugleich.

Kimono mit Ginkgomuster Modernes Kleid mit Ginkomuster

In den 60er Jahren entdeckte auch die westliche Medizin den Ginkgo. Anders als in Asien werden hier bevorzugt seine Blätter verwendet. Die Extrakte daraus gewonnen werden, verbessern die Konzentration, schützen Nervenzellen und erhöhen die Durchblutung kleiner Blutgefässe.

Medikamente

Im ersten Frühling nach der Atombombenexplosion in Hiroshima, als alles Leben ausgelöscht schien, schossen aus verbrannten Ginkgobäumen neue Triebe. Diese Widerstandsfähigkeit machte ihn für die Menschen zum Symbol für Kraft und Hoffnung.

Ginkosprosse

Lange vor uns bewohnte der Ginkgo die Erde, fand einen Platz im Herzen der Menschen und wird, wenn unsere Ära wieder vergangen ist, noch immer seine Blätter in den Himmel strecken. Vielleicht hatten die alten Mystiker recht, als sie das Yin und Yang in ihm sahen, der Ginkgo ist Vergangenheit und Zukunft.